Jerusalem für Insider

Samstag, 25.03.2017

  

Dies ist schon der zweite Tag, an dem die israelische Sommerzeit gültig ist. In der Nacht zu gestern stahl man uns eine Stunde Schlaf -- noch eine, denn zusammen mit der Stunde, die wir auf der Hinfahrt verloren haben, sind wir Deutschland um zwei Stunden voraus. Den ganz großen Unterschied macht das nicht. Der Muezzin vor dem Hotel ruft jetzt so gegen 5 Uhr morgens, nicht mehr um 4.

Um das Defizit ein wenig zu kompensieren marschiert die Gruppe heute wesentlich später los, als in den vergangenen Tagen. Das Frühstück wird bis nach 9 Uhr ausgedehnt - das ist ja fast schon wie Urlaub. Es bleibt Zeit, nicht nur einen Toast mit roter, sondern auch mal mit blauer und gelber Marmelade zu probieren. Die ganz Wagemutigen bedienen sich am Thunfischsalat - und es wird später sogar berichtet, dass selbst Wurst nicht verschmäht wurde.

Den Weg zum Jaffa Gate (Bild) kennt inzwischen jeder - und auch heute beginnt die Tour wieder hier. Am Schabat ist es merklich leerer in den Basars, so dass wir den Weg in gut 20 Minuten schaffen.

Es geht heute über die Stadtmauer im Halbrund um die Altstadt herum. Der Weg liefert interessante Einsichten in Hinterhöfe, Dachterrassen und Stadtgärten. Wir kommen zu Beginn an dem großen gelb-weiß beflaggten ("Ist das die Flagge von Malta?") Gebäude des Vatikans vorbei. Dann an einer Schule, deren (ausschließlich männlichen) Absolventen gerade auf den Beginn ihrer Abschlussfeier warten und die angesichts der (weiblichen) Touristen ein paar sehr unreife Gesten Richtung Stadtmauer schicken.

Der Marsch über die Mauer endet kurz hinter dem Damascus Gate. Eigentlich geht die Mauer weiter, aber aus Sicherheitsgründen hat man den Weg geschlossen. Ob die Umleitung durch das muslimische Viertel sicherer ist, ist eine Frage, die offen bleiben muss. Treppe hier, Tunnel da, rechts rum, sagt das Navi -- uns wir stehen ruckzuck an der Via Dolorosa, so etwa an Station 3 des Kreuzwegs.

In der Mittagspause zieht es Einige in die Restaurants in der Nähe, andere nehmen die Gelegenheit wahr, eine kuriose Sehenswürdigkeit aufzusuchen: Das österreichische Hospiz. Hier weht seit 1863 mitten in der Altstadt die rotweißrote Flagge, es gibt Apfelstrudel, Kaffee (pardon: es gibt Einspänner, Melange, Verlängerten und die ganze Palette der österreichischen Kaffeekultur) und sehr teutonische Fleischgerichte. Das Ganze gut bewacht von IDF Soldaten und im Garten hinter hohen Mauern versteckt.

Auf diese Weise gestärkt schlendert die Gruppe Richtung Lions Gate, biegt dann aber in eine Toreinfahrt und landet bei den Bethesda-Teichen, die vor mehr als 2000 Jahren die Wasserversorgung des nahen Tempels sicher stellten. Die Römer bauten noch ihre berühmten Aquädukte dazu und fertig war das erste Wasserwerk Jerusalems. Jesus hat hier binnen weniger Sekunden einen Mann geheilt („Steh auf, nimm dein Bett auf und geh umher!“, Joh 5,8) - und das an einem Samstag, am Schabat - nachdem dieser Mann jahrelang an der Quelle gelebt und erfolglos auf Besserung seines Gebrechens gehofft hatte.

Corinnas Fuß, den sie sich gestern kurz vorm Jaffa Gate vertreten hatte, hat so eine Behandlung gottseidank heute nicht nötig. Zusammen mit den anderen klettert sie durch die Ruinen. Hauptattraktion für unsere Reisegruppe sind heute aber nicht die Heiligen Wasser, sondern eine Katzenfamilie, deren diverse Kinder auf einem Vorsprung in luftiger Höhe kurz davor sind, in die Tiefe zu stürzen. Gerade als sich unsere sportlichen Jungs überlegen, wie man die Tiere durch eine kleine Klettertour im abgesperrten Teil der Anlage retten könnte, treibt die Reiseleitung die Gruppe zu einem Kurzbesuch in die St. Anna Kirche.

Die weitläufige Bethesda-Anlage wurde vor über 100 Jahren wiederentdeckt und ausgegraben. Seitdem wachen, wohnen und beten hier die "Pères Blancs", die Weißen Väter, eine französische Ordensgemeinschaft. Trotz des Namens liegt das Hauptgewicht der Ordenstätigkeit auf der Missionierung verschiedener Regionen Schwarzafrikas, weshalb die benachbarte St. Anna-Kirche Ziel vieler afrikanischer Pilgergruppen ist.

Die Kirche selbst ist ziemlich schmucklos, aber die Akustik ist weltberühmt. Afrikanische Gospelchöre bringen hier regelmäßig den Putz zum Bröckeln und schaffen 20 Sekunden Nachhall. Unsere durch zahlreiche Musikstunden und Gottedienste geschulten Stimmen können da nicht ganz mithalten. Schon bei der Auswahl des Repertoires gibt es Probleme. Wie war nochmal der Text von "Kleines Senfkorn?" Man einigt sich schnell auf "Da berühren sich Himmel und Erde" - das habe nur ein paar Zeilen Text und den Refrain könne ja jeder.

Und da auch gerade keine Konkurrenz in der Nähe ist - die Kirche ist fast leer - kommt es dann zu einer denkwürdigen Aufführung. Mit 12 Sekunden Nachhall. Etwas irritiert wendet sich anschließend der aufsichtführende "Père Blanc" an den (nebenberuflichen) Chorleiter. Er kenne das Lied jetzt nicht, aber er frage sich, ob Text, Melodie und Arrangement so vom Komponisten erdacht worden sei, oder ob der Chor heute Intonationsprobleme gehabt habe. Die Frage bleibt unbeantwortet. Wir gehen.

Die Gesangsaktion ist aber immerhin ein schöner Auftakt für den Kreuzweg, der gleich unten an der Via Dolorosa beginnt. Wir steigen so etwa bei Station drei ein. Diese und fast alle anderen Stationen liegen heute mitten im arabischen Viertel - und hier ist immer reichlich Betrieb.

Gerade wenn die christlichen Pilger kommen, laufen die Verkäufer links und rechts zur Hochform auf. Da kostet es schon Anstrengung und Konzentration, als die Gruppe versucht, an der ein oder anderen Kreuzweg-Station gemeinsam ein kurzes Gebet zu sprechen. Es gelingt ganz gut - und wir bekommen einen kleinen Eindruck, wie es Jesus ergangen sein muss, als er hier vor 2000 Jahren etwa um die gleiche Tages- und Jahreszeit das Kreuz durch die vollen Gassen und auf den Kalvarienberg geschleppt hat.

Wie immer ist das natürlich nur die halbe Wahrheit, denn die Wissenschaft hat zweifelsfrei festgestellt, dass Jesus eigentlich ganz woanders langgelaufen sein muss. Der Verlauf der heutigen Via Dolorosa und die einzelnen Stationen wurde erst im späten Mittelalter festgelegt. Uns ist es aber authentisch genug.

Schließlich schieben wir uns durch einen kleinen Durchgang - hier ist es SEHR voll - und stehen vor dem Eingang zur Grabeskirche. Sicherheitskräfte regeln den Verkehr - es scheint Prominenz in der Nähe zu sein, denn Teile des Platzes sind abgesperrt und die Presse ist da.

Und zack hat sich ein Kameramann unsere Lisa geschnappt und sie vor die Linse gezerrt. Demnächst wird sie also in einer italienischen Doku zu sehen sein, wie sich dann herausstellt. Dabei kann sie gar kein italienisch.

Ein Ruck geht durch die Menge, denn die Gitter werden abgebaut. Alles strömt durch den Eingang hinein ins Halbdunkel. Schätzungsweise 5000 Menschen versuchen gleichzeitig, das Grab zu finden - eine Kirche in der Kirche. Längst hat sich die Montegruppe aufgeteilt. Während eine kleine Schar Unentwegter nicht vor der endlosen Schlange vor dem Eingang zum Grab Jesu zurückschrecht und dort fast zwei Stunden ausharrt, versuchen andere, den Berg Golgatha zu erklimmen. Die Kirche ist auf dem Berg errichtet worden und nach kurzem steilen Aufstieg über in paar speckige Treppenstufen steht ein Teil unserer Gruppe tasächlich vor der Stelle, an der das Kreuz gestanden hat (oder haben muss). Und belohnt werden sie auch noch, denn hier ist es gerade gar nicht so voll. Erstaunlich, dass viele die Gelegenheit gar nicht wahrnehmen wollen, sich die Stelle ganz genau anzusehen.

Vermutlich sind sie geschockt von dem gänzlich unfrommen Touristenrummel, der sich hier abspielt. Es ist laut wie in der Bahnhofshalle zur Rush Hour, Selfies werden gemacht, Ellenbogen werden eingesetzt, Blitzlichtgewitter überall. Fehlt noch der Eisverkäufer.

An einem länglichen Stein, der mit hunderten silbernen Lampen und Weihrauchfässern dekoriert ist, spielen sich seltsame Szenen ab. Es soll die Stelle sein, an der Jesus während seiner Totensalbung gelegen haben soll. Frauen werfen sich auf den Stein und küssen die Oberfläche, eine andere holt Schmuck aus einer Plastiktüte und reibt sie über den Stein. Ein Mann stellt ein Gefäß auf, eine Wasser- oder Ölflasche viellecht - legt einen Schal drunter und kippt das Gefäß um. Daneben schüttet jemand einen ganzen Berg Plastikkreuze aus, um sie dann gleich wieder einzusammeln. Religiöser Wahn ist das glaube ich noch nicht, aber so kurz davor.

Frisch renoviert und vorgestern erstmals seit 70 Jahren ohne Gerüst: Das Grab Jesu.

BMMG Kinder sind ja von Natur aus neugierig und geben sich nicht mit dem Normalen zufrieden. Eine weitere kleine Gruppe hat sich an den Massen vorbei den Weg ins Innere der sehr verwinkelten mehrstöckigen Grabeskirche gebahnt und wird Zeuge einer (ich glaube) koptischen Gebetsstunde. Unwillkürlich wird man an den Film "Der Name der Rose" erinnert, als etwa zwanzig kapuzenbedeckte Gestalten mit langen Bärten und prächtigen Gewändern  in einer Nebenkapelle anfangen zu beten und zu singen. Weihrauchfässer werden dazu geschwenkt und zusammen mit der Kerzenbeleuchtung hat das schon ein wenig was Unheimliches.

Den Eltern unter den Blog-Lesern sei noch mitgeteilt, dass alle Gruppenmitglieder von hier aus selbständig den Weg nachhause ins Hotel gefunden haben. Langsam werden sie zu Jerusalem-Profis.